Bernd Riexinger

"Da müssen Sie als Wohlhabender durch"

Stand: 10.04.2020

Von Ulf Poschardt
Chefredakteur

Linke-Chef Bernd Riexinger glaubt, dass ausgerechnet seine sozialistische Partei von der Wirtschaftskrise profitieren wird. Er kritisiert, dass Deutsche schon seit Jahrzehnten massenhaft enteignet würden. Und was hält er eigentlich von einem Kanzler Scholz? Linke-Chef Bernd Riexinger sprach sich als Konsequenz aus der Corona-Krise für ein Investitionsprogramm in Europa aus. Riexinger fordert einen "europäischen Marshallplan, der gleichzeitig ökologisch und sozial nachhaltiges Wirtschaften stärkt".
Quelle: WELT / Sebastian Struwe

Teil 13 unserer Interview-Serie aus dem Homeoffice, diesmal mit dem Linke-Chef Bernd Riexinger. Wie verändert die Corona-Krise die Rolle des Staates auf die Dauer? Und wie sehr freut sich der Parteivorsitzende auf eine rot-rot-grüne Machtoption unter einem Kanzler Olaf Scholz? Darüber sprachen wir in einem E-Mail-Pingpong mit dem 64-Jährigen.

WELT: Herr Riexinger, was macht die Corona-Homeoffice-Welt mit Ihnen? Wie geht es Ihnen nach knapp vier Wochen im ziemlichen Ausnahmezustand?

Bernd Riexinger: Mir geht es gut. Zwischendurch gab es mal den Verdacht, ob ich mich über den Bundestagsfahrdienst angesteckt haben könnte, der Test war aber negativ. Im Vergleich zu den Menschen, die jetzt in engen Wohnungen bleiben müssen oder von 60 Prozent zum Beispiel eines Tischlergehalts leben müssen, ist mein Leben gut zu ertragen.

Aber auch für mich hat Homeoffice anstrengende Seiten: Eine Video- und Telefonkonferenz jagt die nächste, Parteivorstand und Fraktionsführung tagen und stimmen sich regelmäßig ab. Wir erfinden politische Praxis unter den Bedingungen von Corona und Kontaktsperre in der Partei neu. Besonders die Mitgliederkommunikation ist jetzt wichtig. Das klappt ganz gut.

WELT: Ihre Partei ist in schweren Gewässern. Die Strategiekonferenz vor einigen Wochen und einige ziemlich exotische außenpolitische Akzente aus der Bundestagsfraktion haben die Zweifel an der politischen Reife wachsen lassen. Katja Kipping hat das scharf kritisiert. Fühlen Sie sich mitschuldig am aktuellen Elend?

Riexinger: Wir sind gut aufgestellt. Auf die Krise im Gesundheitssystem weisen wir seit Jahren hin und zeigen, wie Alternativen aussehen müssten. Wir haben schnell ein Sofortprogramm verabschiedet. Viele unserer Forderungen werden breit aufgegriffen: 500 Euro mehr im Monat für die versorgungsrelevanten Berufe, Anhebung des Grundgehalts in der Pflege. Unsere Vorschläge für den Mieterschutz konnten wir zum Teil durchsetzen. Wir streiten mit den Gewerkschaften für ein höheres Kurzarbeitergeld. Gerade für die niedrigen Einkommen im Dienstleistungsbereich reichen 60 beziehungsweise 67 Prozent nicht zum Leben.

Wir stellen uns gegen Überlegungen aus dem Landwirtschaftsministerium, Erwerbslose, Asylbewerber oder Menschen, die vom Kurzarbeitergeld nicht leben können, zum Beispiel zur Erntearbeit zu verpflichten. Um für notwendige und schwere Arbeiten Arbeitskräfte zu gewinnen, gibt es ein einfaches Mittel: gute Löhne und Arbeitsbedingungen. Dafür stehen wir.

WELT: Sie haben die Frage nicht beantwortet. Soll ich Sie noch mal stellen?

Riexinger: Die Antwort gefällt Ihnen vielleicht nicht. Ich teile Ihre Einschätzung über den Zustand unserer Partei nicht.

WELT: Also irrt Katja Kipping?

Riexinger: Als Parteivorsitzende sind wir für die gesamte Partei zuständig und verantwortlich. Da kann man auch mal mahnende Worte sprechen.

WELT: Wie konnte diese Strategiekonferenz so aus dem Ruder laufen?

Riexinger: Die Strategiekonferenz der Linken werten wir intern aus. Für das Land gibt es meines Erachtens gerade ganz andere Herausforderungen zu besprechen.

WELT: Das heißt, Sie entscheiden intern, ob ich als Wohlhabender erschossen oder zur Zwangsarbeit geschickt werden soll, wie es auf der Konferenz angesprochen wurde?

Riexinger: Wir wollen weder jemand erschießen noch zur Zwangsarbeit schicken. Wir halten es aber unbedingt für notwendig, dass Reiche und Superreiche endlich mehr Steuern bezahlen und so zur Finanzierung des Gemeinwohls beitragen. Da müssen Sie als Wohlhabender durch. Es soll ja sogar Vermögensmillionäre geben, die dafür sind, eine Vermögensteuer einzuführen. Gehören Sie dazu?

WELT: Als Liberaler wünscht man sich die Bürger raus aus der Honoratiorenhaftigkeit rein ins individuell Rebellische. Aber wie sehen diese radikalen Vorstellungen für Sozialisten aus?

Riexinger: Das Schöne an der sozialistischen Vorstellung des Rebellischen ist der Gedanke: "Gemeinsam können wir die Welt verändern." Die Vorstellung, sich auf Kosten anderer Gruppen oder der Mehrheit der Menschen zu "befreien" oder voranzukommen, ist darin ausgeschlossen.

WELT: ... Zwischenfrage: Was ist mit denen, die enteignet werden müssen für den Sozialismus?

Riexinger: In den letzten Jahrzehnten gab es Enteignungen ganz anderer Art. Wer 50 bis 60 Prozent seines Lohns für die Miete aufbringen muss, dem wurde doch ein erheblicher Teil seines Lohns enteignet. Wenn die unteren Einkommensgruppen in den letzten zehn Jahren bis zu elf Prozent Reallohnrückgang in Kauf nehmen mussten, ist das keine Enteignung? Das reichste ein Prozent besitzt ein Drittel des gesamten Vermögens. Die untere Hälfte der Bevölkerung fast nichts. Hier geht es um Rückumverteilung.

Außerdem sieht das Grundgesetz Vergesellschaftung im Interesse des Gemeinwohls ausdrücklich vor. Hinter uns liegt eine Phase der öffentlichen Enteignung, Privatisierung von lebens- und versorgungswichtigen Dienstleistungen. Allein wie viel besser die Gesundheitsversorgung wäre, wenn die privaten Kliniken rekommunalisiert wären. Sie haben ja vielleicht gesehen, dass in einer entsprechenden Befragung von Civey drei Viertel der Befragten diese Einschätzung teilten und sich für Rekommunalisierung aussprechen.

WELT: Entschuldigung, ich hatte Sie unterbrochen. Sie sprachen vom Rebellentum der Sozialisten...

Riexinger: ... Wir müssen immer Wege finden, es gemeinsam auch mit denen zu schaffen, die uns kulturell oder vom Klassenhintergrund erst mal nicht vertraut sind. Die ganz normalen Menschen, die vielen können viel mehr, als ihnen in dieser Gesellschaft zugestanden wird. Sozialist*innen arbeiten daran, dass sie so zusammenfinden, dass das realisiert werden kann: In sozialen Bewegungen, Bürgerinitiativen, Gewerkschaften, auf der Straße, in den Betrieben und in den Kommunen - und natürlich auch im Parlament. Die Klammer heißt Solidarität.

Radikal heißt an die Wurzel gehen. Deshalb treten wir für eine andere Gesellschaft ein, eine nachkapitalistische, die nicht auf der Ausbeutung von Mensch und Natur beruht, sondern für alle Menschen die Voraussetzungen für ein erfülltes Leben und gleichberechtigte Teilhabe ermöglicht. Das erfordert Mut zum Widerspruch, Rückgrat und Ausdauer. Nur lebendige Fische schwimmen gegen den Strom.

WELT: Wie halten Sie es mit der Nato, die in Ihrer Partei scharf kritisiert wird?

Riexinger: In die politische DNA der Linken ist aktive Friedenspolitik fest eingeschrieben. Wir treten für Abrüstung und präventive Friedenspolitik ein. Helmut Schmidt hat einmal zur Nato gesagt, dass sie in Wirklichkeit überflüssig sei. Sie ist ein Produkt des Kalten Krieges und des Ost-West-Gegensatzes. Heute brauchen wir ein Sicherheitssystem, das nicht entlang von feststehenden Feindlinien organisiert ist. Dieses Sicherheitssystem muss Russland einbeziehen.

Die Nato-Staaten geben jährlich über eine Billion Dollar für Rüstung und Streitkräfte aus, weitere Steigerungen sind geplant. Auch hier kann uns Corona vielleicht helfen zu sehen: Dieses Geld ist anderswo sinnvoller eingesetzt, und es wird dringend benötigt! In den kommenden Jahren brauchen wir die Milliarden nicht für Aufrüstung, sondern für Investitionen in Infrastruktur, Gesundheit, Bildung, Wohnen und andere sinnvolle Dinge.

WELT: Also raus aus der Nato?

Riexinger: Wir wollen die Nato überwinden und durch ein neues Sicherheitssystem ersetzen.

WELT: Ist die Linke immer noch eher eine ostdeutsche Partei, so wie die Grünen vor allem eine westdeutsche Partei sind?

Riexinger: Wir sind längst zu einer gesamtdeutschen linken Partei geworden. Seit 2019 haben wir mehr Mitglieder im Westen als im Osten und wachsen weiter in den westlichen Landesverbänden. Wir konnten in den letzten drei Jahren fast 20.000 neue Mitglieder gewinnen, die Mehrheit im Westen, zwei Drittel sind unter 35 Jahre alt. Mit Bremen und Hamburg haben wir bei westdeutschen Landtagswahlen zugelegt, regieren in Bremen erstmals. Wir wollen unsere Position im Westen weiter ausbauen und gleichzeitig im Osten eine starke Partei bleiben. Das ist uns zum Beispiel in Thüringen ganz gut gelungen.

WELT: Die SPD wird gerade wieder stärker, die Grünen schwächer, und die Linke bleibt fragil. Würden Sie sich auf Rot-Rot-Grün unter Kanzler Olaf Scholz (SPD) freuen?

Riexinger: Wenn ich Olaf Scholz richtig verstanden habe, steht die Frage nicht so recht an. Ob ich mich freuen würde, hängt natürlich davon ab, was die SPD für die Zeit nach Corona vorschlägt: Wenn sie bereit ist, die Investitionen in Gesundheit zu stärken und für bessere Löhne und Tarifverträge eintritt, wenn wir einen Mindestlohn oberhalb der Niedriglohngrenze vereinbaren, eine Rente, die Lebensstandard sichernd ist, eine armutsfeste Mindestsicherung vereinbaren, den sozialen Wohnungsbau ankurbeln, ein Investitionsprogramm auf den Weg bringen, das Klimaschutz und soziale Gemeingüter stärkt und die Bundeswehr nicht in Kriegseinätze schickt, dann werden die Mitglieder der Linken sicher für unsere Beteiligung an einer rot-rot-grünen Regierung stimmen.

Über ihre Kanzlerkandidaten entscheidet die SPD. Für uns ist entscheidend, dass wir einen Politikwechsel durchsetzen, der für eine Mehrheit der Bevölkerung eine spürbare Verbesserung ihrer Arbeits- und Lebensverhältnisse bringt.

WELT: Wollen Sie mit Eurobonds ein Fass ohne Boden für die deutschen Steuerzahler?

Riexinger: Das sind sie meines Erachtens nicht. Immerhin plädieren ja namhafte Wirtschaftswissenschaftler, auch Michael Hüther aus dem Präsidium des Instituts der deutschen Wirtschaft, dafür. Wenn wir Sorge um Gelder der deutschen Steuerzahler und der Umlagesysteme haben, sollten wir zuerst verhindern, dass Konzerne Dividenden ausschütten, die Staatshilfen beantragt haben. Durch Steueroasen entgehen den Staaten weltweit 800 Milliarden Dollar Steuern im Jahr.

WELT: Ach so.

Riexinger: Solidarität in Europa ist gerade das Gebot der Stunde. Wir müssen verhindern, dass Europa nicht wieder in eine wirtschaftliche und soziale Krise schlittert. Als wirtschaftlich stärkstes Land in Europa mit einer starken Exportorientierung können wir nicht daran interessiert sein, dass Länder wie Spanien oder Italien ins Bodenlose fallen. Davon würden vor allem rechte und europafeindliche Kräfte wie Salvini profitieren.

Ich schlage vor, dass die Europäische Investitionsbank Coronabonds auflegt, die dann von der EZB aufgekauft werden. Damit könnten Länder wie Italien, Spanien oder Griechenland erspart bleiben, dass sie hohe Zinsen für eigene Anleihen bezahlen müssen und dieses Modell käme nicht in Konflikt mit dem Bundesverfassungsgericht. Jetzt muss sich erweisen, ob die Bundesregierung den europäischen Zusammenhalt stärkt oder nicht.

WELT: Ist die deutsch-europäische Austeritätspolitik nach 2008 Schuld am aktuellen Elend in Italien und Spanien, wie das Jürgen Trittin im WELT-Interview erklärt hat?

Riexinger: Was die Austeritätspolitik angerichtet hat, sieht man jetzt an den Gesundheitssystemen dieser Länder. Sie war der falsche Weg. Sie hat die sozialen Probleme verschärft und die wirtschaftliche Kluft vertieft. Die Privatisierung von Krankenhäusern und anderen öffentlichen Einrichtungen hat zur Folge, dass alles auf Kante genäht ist, der Bedarf - zu dem auch die Vorsorge für Notfälle und besondere Belastungen gehört - steht hinter dem Profit zurück.

Das Aushungern der öffentlichen Daseinsvorsorge und gedrückte Löhne haben große Verwüstungen hinterlassen. Ganze Regionen in Europa wurden deindustrialisiert und abgehängt. Diese Politik ist gescheitert. Wir brauchen ein großes Investitionsprogramm in Europa, einen europäischen Marshallplan, der gleichzeitig ökologisch und sozial nachhaltiges Wirtschaften stärkt. Der die öffentlichen Bereiche wie Gesundheit, Pflege, Bildung, ÖPNV aufbaut, die Fundamentalökonomie der Infrastruktur stärkt und gleichzeitig den sozialökologischen Umbau vorantreibt.

WELT: Eine aktuelle Umfrage zeigt die CSU in Bayern wieder bei 49 Prozent. Was macht Markus Söder in der Corona-Krise richtig?

Riexinger: Umfragen unter den Bedingungen der Corona-Krise dürfen nicht überbewertet werden. Söder inszeniert sich als Krisenmanager, als entschlossener Macher. Die eigentliche Krise steht uns jedoch erst noch bevor. Wir stehen vor einer handfesten Weltwirtschaftskrise. Arbeitsplätze, Einkommen und viele Existenzen sind gefährdet. Gleichzeitig werden wichtige Herausforderungen wie die Klimakrise, die soziale Ungerechtigkeit, bezahlbarer Wohnraum und eine Investitionsoffensive wieder auf die Tagesordnung kommen. Ich sehe nicht, dass Söder und die CSU oder auch die CDU dazu überzeugende Antworten und Konzepte haben.

WELT: Glauben Sie ernsthaft, dass die Menschen in einer Wirtschaftskrise eine sozialistische Partei wählen?

Riexinger: Warum nicht? In einer Krise kommt es darauf an, wer überzeugende Auswege und Konzepte für die Zukunft aufzeigen kann. Wir machen uns die Mühe, Alternativen aufzuzeigen. Auf überzeugende Konzepte der bürgerlichen Parteien warte ich noch. Bisher sehe ich keine.

WELT: Noch ganz kurz zur Außenpolitik. Können Sie eine Beliebtheitsreihenfolge folgender Politiker formulieren: Trump, Putin, Maduro, Johnson, Xi Jinping?

Riexinger: Diese Herangehensweise an Politik finde ich unter dem erforderlichen Niveau.

WELT: Okay, dann versuche ich es mal mit Niveau. Der neue stellvertretende Fraktionschef der Linken hat nie einen Hehl aus seiner Verehrung für Venezuelas Präsident Maduro gemacht, er würdigte Putins Witz namens "Volksrepublik Donezk" mit einem skandalösen Besuch und gehört wie einige Ihrer Parteifreunde zu den Israel-Boykotteuren BDS. Erklären Sie mir doch bitte mit Niveau, wo die Partei da steht.

Riexinger: Die Partei hat sich in den von Ihnen angesprochenen Fragen klar positioniert. Wir haben die Einmischung der USA in die inneren Angelegenheiten von Venezuela kritisiert, uns aber nicht mit der Politik von Maduro identifiziert. Da gibt es auch bei der Linken Kritik. Wir lehnen auch die Sanktionen gegenüber Venezuela ab. Die Annexion der Krim hat die Linke in einem Parteivorstandsbeschluss als völkerrechtswidrig kritisiert. Die Linke hat das Existenzrecht von Israel in ihr Programm reingeschrieben, und wir unterstützen die Kräfte in Israel, die für die Zweistaatenlösung eintreten. In unseren Beschlüssen kritisieren wir Verletzungen von Grund- und Menschenrechten immer scharf. Jedes linke Projekt braucht Demokratie wie die Luft zum Atmen.


Quelle: welt.de vom 10.04.2020